Quantcast
Channel: Alles andere als down » Down-Syndrom
Viewing all articles
Browse latest Browse all 17

Ein Mensch ist keine Strapaze, niemals!

$
0
0

„Nimm‘s nicht so ernst!“, „Wie willst du klarkommen, wenn du dir jede blöde Äußerung zu Herzen nimmst?“, „Du wirst dein ganzes Leben mit solchen Aussagen zu tun haben, du musst dir ein dickes Fell zulegen“ … Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich überlege, ob ich etwas zu diesem Kommentar schreiben möchte. Ich habe mich dann entschieden, dazu einen Text zu schreiben. Ganz einfach: Weil ich lebe, liebe, denke. Also berühren Worte, mal mehr mal weniger.

Wenn sie groß ist, werden die Blicke nicht mehr so freundlich sein

Meinen letzten Beitrag hatte ich zu meinen Gedanken über „Blicke“ geschrieben. Ein Kommentar hat mich nachdenklich gemacht:

"Die Blicke werden nicht mehr so freundlich wenn Sie mit einer 20-jaehrigen durch Geschaefte ziehen.
Downs Kinder die aelter sind werden meistens zu einer Strapaze fuer die ganze Familie und auch die Umwelt. " [sic]

Es geht nicht um diesen einen User. Ich möchte gar nicht versuchen, diesen einen Kommentar näher zu deuten. Ich denke nach über das Bild, das hier über Behinderung gezeichnet wird. Ich fürchte, es ist weiter verbreitet, als ich mir das wünsche. Dieses Bild zeigt Behinderung als Belastung. Ein Mensch, der auf Unterstützung durch andere angewiesen ist, wird als eine Last betrachtet oder -  wie in diesem Kommentar - eine Strapaze genannt.

Ihr Leben aber war ein großer Glücksfall

Ich musste in den letzen Wochen immer mal wieder an Gisela Großer denken. Im Dezember habe ich einen Artikel auf der Seite schwäbische.de mit der Überschrift „Ihr Leben war ein großer Glücksfall“ gelesen. Es geht darin um Gisela Großer, die nach kurzer und schwerer Krankheit am 11. Dezember 2014 gestorben ist. Sie kam 1942 mit dem Down-Syndrom zur Welt, diesen Februar wäre sie 73 Jahre alt geworden. Gisela Großer entkam der NS-Euthanasie und überlebte die Nazi-Zeit. Dass sie das Down-Syndrom hat, wurde weder von den Ärzten noch von den Schwestern an die Nazis gemeldet. Ihre Mutter musste in den ersten Jahren ganz besonders aufpassen, die Behinderung ihrer Tochter durfte auf keinen Fall entdeckt werden. Jeder Hinweis an die Nationalsozialisten - sei es von Nachbarn oder von Ärzten -  hätte das Ende ihres Leben bedeutet.

Als ich dann neulich mit der Kleinen in der Bücherei war, nahm ich mir Bücher zum Thema Euthanasie mit. Mein Großvater hat als Kommunist das Konzentrationslager Sachsenhausen überlebt, vielleicht habe ich daher dieses Interesse und diese Sensibilität, wenn es um das Thema geht. Doch dann lag der Stapel mit Büchern zu Kinderernährung, Sprachentwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom und zur Euthanasie tagelang völlig unangetastet zu Hause im Regal. Dieser Moment, an dem ich mich mal ganz in Ruhe hinsetze und lese, der kam irgendwie nicht, immer gab es andere Dinge, die wichtiger waren.

Euthanasie: Nur ein gesunder Mensch genießt uneingeschränktes Lebensrecht

Ich blättere dann doch an einem Abend durch die Bücher zu Euthanasie, lese in „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“, erschienen im Wallstein-Verlag. Schätzungsweise 300.000 Psychiatriepatienten starben durch die Nationalsozialisten. Der Wert des Menschen wurde während der Nazizeit im Sinne einer gesellschaftlichen Nützlichkeit bewertet. Nur der arbeitsfähige und gesunde Mensch genoss danach uneingeschränktes Lebensrecht. Schwäche, Krankheit, Verlust der Arbeitskraft und Abhängigkeit von der Zuwendung anderer galten als Faktoren, die den Wert eines menschlichen Lebens negativ belastet haben. Der Mensch wurde als Kostenfaktor betrachtet.

Natürlich rührt mich die Geschichte von Gisela Großer. Es ist die Geschichte einer Frau, die Glück hatte, in einer Familie aufzuwachsen und zu leben, die ihr Schutz und Geborgenheit gab. Gleichzeitig ist es auch eine Zeit- Geschichte, die an die Menschen erinnert, die den Nationalsozialisten nicht entkommen konnten.

Wer darf heute leben?

Mir gehen Gedanken über die heutige Testkultur durch den Kopf. Die Massenmorde der Nationalsozialisten waren ideologisch begründet und planmäßig durchgeführt und sind nicht mit der heutigen Selektion durch pränatale Diagnostik zu vergleichen. Doch ist die Euthanasie immer wieder ein Thema in Diskussionen um pränatale Diagnostik. Der Vergleich zwischen der Euthanasie des Dritten Reichs und der Pränataldiagnostik ist extrem vorsichtig zu betrachten. Aus Respekt vor den Opfern und deren Nachfahren ist in diesem Zusammenhang eine differenzierte und angemessene Diskussion geboten. Das jedoch aktuelle, ethisch geprägte Diskussionen um pränatale Diagnostik, die der Frage nachgehen, welches Leben als lebenswert erachtet wird, mit der Sicht der Nationalsozialisten auf Menschen mit Behinderung assoziiert werden, ist naheliegend - und ein kritischer Blick vor dem Hintergrund der Geschichte nicht vermeidbar.

Der Test wird eine Kassenleistung werden

Diesen Mittwoch wurde in der „Zeit“ ein sehr ausführlicher und umfangreicher Artikel mit der Überschrift „Der Test“ von Ulrich Bahnsen zum Thema pränatale Diagnostik und Down-Syndrom veröffentlicht. Bei „Zeit Online“ gab es auch ein umfassendes Multimedia-Dossier zu dem Thema (sogar in Leichter Sprache!).

Es wird schnell deutlich, dass Menschen mit Down-Syndrom gegenwärtig als Projektionsfläche herhalten müssen. Verbergen sich nicht vor allem gesellschaftliche Defizite hinter dieser Projektion? Faktisch können ja die wenigsten Behinderungen durch pränatale Diagnostik verhindert werden. Die meisten werden durch diesen Bluttest gar nicht erkannt. Und Fakt ist, dass wir immer mit Behinderungen leben werden müssen. Die vermeintliche Mehrarbeit oder Strapaze, die man mit einem Kind mit einer Behinderung haben soll, wird als Argument für die Selektion durch pränatale Diagnostik gerne herangezogen.

Die Möglichkeit, zukünftig völlig selbstverständlich im Rahmen der regulären Schwangschaftsvorsorge wählen zu können, ob man ein Kind mit Down-Syndrom möchte oder nicht, schürt Ängste. Es ist eine Möglichkeit, die Druck ausübt auf die werdenden Eltern und betont: Ihr als Eltern habt jetzt die Aufgabe und Verantwortung darüber zu entscheiden, ob euer Kind leben darf oder nicht. Wollt ihr euch das Leben „unnötig schwer“ machen? Wollt ihr euren anderen Kindern diese „Last“ wirklich aufbürden?! Wenn ihr euch für das Kind entscheidet, dann bedeutet das vielleicht mehr Belastung. Und wenn die Ehe dann kriselt … ja dann seid ihr selbst schuld. Wenn euer Kind vielleicht einen Herzfehler hat, ja dann seid ihr schuld. Ihr hättet es ja verhindern können! Wenn ihr dann mal müde seid, erschöpft, weil es manchmal mehr Kraft kostet, so viel Liebe und Energie in das Leben mit eurem Kind zu investieren als ihr aufbringen könnt, dann beschwert euch nicht! Ihr habt es so gewollt! Ihr hättet diese „Strapazen“ verhindern können! Wenn ihr eure berufliche Karriere unterbrechen müsst, dann denkt dran, ihr habt es ja damals nicht anders gewollt! Der Arzt hatte es euch ja angeboten! Es wäre nur ein Piks gewesen, dann nur ein kleiner Eingriff und alles wäre „gut“ gewesen, aber ihr wolltet es ja so.

Dich müsste es eigentlich nicht geben!

Natürlich steckt in dieser Testkultur auch eine Aussage, die sich direkt an Menschen mit Down-Syndrom richtet. Sie signalisiert „Weil du anders bist als die meisten Menschen, müsste es dich eigentlich heute nicht mehr geben!“ Ein bisschen Zeit habe ich ja noch, um mir zu überlegen, wie ich das eines Tages der Kleinen am besten erkläre …

Es ist sehr mutig, dass Lisa und Richard Erdiger in der „Zeit“ unter der Überschrift „Wir haben unseren Sohn getötet“ ihre Erfahrungen mit einer Spätabtreibung veröffentlicht haben. Es wird deutlich, dass die Entscheidung für eine Beendigung einer Schwangerschaft für die Familie eine extreme Belastung darstellen kann. Es ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich, zu jedem Zeitpunkt bis zur Geburt eine Schwangerschaft zu beenden. Aber ungeschehen kann man sie nicht machen, sie ist und bleibt Teil der Biografie der Beteiligten.

Das Bild von Behinderung ist entscheidend

Doch ist es nicht diese Einstellung, die nach wie vor vorhandene Exklusion aus der Gesellschaft - in Kindergärten, Schulen und der Arbeitswelt, in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen -,die dazu führt, dass Behinderung häufig pauschal als Belastung, als Strapaze für alle empfunden wird? Die fehlende Vertrautheit im Zusammenleben mit Menschen mit einer Behinderung führt dazu, dass sie als die „Anderen“ gesehen werden. Dem Kind mit Down-Syndrom wird bei der Diskussion um pränatale Diagnostik das Stigma der Anstrengung, des nicht erfüllten Lebensglücks angeheftet. Die Eltern werden zu denjenigen, die sich entweder liebevoll und aufopfernd ihrem Schicksal hingeben wollen oder ihre eigentlichen Lebensziele ungestört weiter verfolgen.

Den Kern dieser großen Themen (die ich hier nur völlig unzureichend streife) sehe ich in dem Bild, in der Vorstellung, die von Behinderung in unseren Köpfen stattfindet. Am Beispiel des Down-Syndroms tritt es deutlich zutage. Und daher ist der Bezug zur Inklusion so enorm bedeutend. Denn nur durch das selbstverständliche Zusammenleben aller Menschen lässt sich dieses Verständnis auflösen.

Übrigens: Mein Kind kann Astronaut werden!

Einmal habe ich eine Mutter getroffen, die auch ein Kind mit Down-Syndrom hat. Sie sagte einen Satz, den ich nicht vergessen werde und für den ich ihr sehr dankbar bin. Wir sprachen über die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und sie sagte „Ich möchte daran glauben können, dass mein Kind Astronaut werden kann“. Für mich sagt dieser Satz ganz viel aus. Weil wirklich niemand auf dieser Welt vorhersagen kann, was ein Kind (mit Down-Syndrom) lernen kann, alles ist offen.

 

follow me on twitter


Viewing all articles
Browse latest Browse all 17


<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>