Ich stehe am S-Bahnhof vor einem Aufzug. Um mich herum laufen viele Menschen hektisch hin und her oder warten auf ihren Bus, es ist eng und laut. Ich drücke auf den Knopf und warte. Die Kleine liegt im Kinderwagen, sie ist müde nach der Physiotherapie. Eine Frau, deren Alter ich schwer schätzen kann, reiht sich hinter mir ein. Ihr langes, etwas strohiges Haar hat sie zu einem Zopf zusammengebunden, sie trägt einen weiten, grauen Parka. Mit einer Hand hält sie ihren Hackenporsche fest. „Man muss sich ja durchsetzen, sonst kommt man nirgendwo weiter.“ Mit 16 Brüdern sei sie groß geworden, da habe sie das so gelernt. Ihr Blick war ernst, ihre Zähne erinnerten mich an stumpfe Bleistiftspitzen. Ich sah sie an, sie erzählte weiter. Sie habe vor vielen, vielen Jahren ihre damals 20-jährige Tochter im Rollstuhl geschoben. Und gleichzeitig den Kinderwagen mit den Zwillingen der Tochter. Der Aufzug kam, wir stiegen ein. Sie wollten damals mit einem Bus fahren. Als der Bus hielt, stieg ein Mann aus, sah die Tochter und den Kinderwagen und statt zu helfen sagte er „Ein Krüppel, aber Kinder in die Welt setzen“. Sie habe daraufhin ihren Regenschirm rausgeholt und zugelangt.
Das Erlebnis ist schon lange her und zum Glück denken die meisten Menschen heute anders. Für die Frau ist es jedoch noch heute sehr präsent. Eine traurige Geschichte.
Die Mama sucht einen Krippenplatz
„Wir haben dafür keine Betriebserlaubnis“, „Nein, wir haben keine ausgebildeten Leute …“, „Wir sind kein Integrationskindergarten“ … „Das tut mir wirklich so leid, ich bitte um Entschuldigung.“
Ich suchte Anfang des Jahres nach einer Krippe für die Kleine. Dabei hatte ich überwiegend die gleichen Kriterien, die ich bei der Großen auch hatte. Ich überlegte, was ich wichtig finde, zum Beispiel, ob die Krippe ein schönes Außengelände haben sollte. Oder vielleicht passt ja eine Krippe mit Waldorfkonzept gut zu ihr? Soll der Schwerpunkt auf Musik, Kunst oder Bewegung liegen? Die Kleine ist für mich nicht das behinderte Kind. Sie ist ein ganz normales Kind, das eine Behinderung hat. Es war daher schlimm für mich festzustellen, dass ich für die Kleine nicht so frei eine Krippe suchen kann, wie für ein Kind ohne die Diagnose Down-Syndrom. Ich habe es nicht verstanden, dass ich mitten in Hamburg lebe und nun doch irgendwie nicht dazu gehören sollte. Konnte ich am Ende „froh“ sein, wenn wir eine Krippe fänden? Das war meine große Angst, es war das, was bei mir angekommen war.
Und die Behörden?!
Ich saß mit dem Laptop, Zetteln und Stift auf dem Boden neben der Kleinen, die sich auf ihrer Spieldecke einen Moment alleine beschäftigte. Ich rief bei der Abteilung Kindertagesbetreuung an, um Informationen einzuholen. Mir wurde mitgeteilt, dass es erst ab drei Jahren ein integratives Angebot für Kinder gäbe. Die Krankenkassen seien zuständig. Ich bat die Mitarbeiterin, sich zu erkundigen, da ich zuvor auf der Website der Stadt gelesen hatte, dass es seit Sommer 2013 in Hamburg einen Rechtsanspruch für alle Kinder ab einem Jahr gibt, auch für Kinder mit einer Behinderung. Sie legte den Hörer hin, ging zu einem Kollegen und teilte mir mit, dass es dazu noch keine Anweisung gebe. Wir verabschiedeten uns.
Später hatte ich noch Kontakt zu einem anderen Mitarbeiter. Diesmal: Es gebe den Rechtsanspruch für Kinder ab eins. Jedoch gebe es keine zusätzliche Förderung für Kinder mit einer Behinderung in der Krippe.
Ich hatte inzwischen schon selbst auf sehr umständlichem Weg herausgefunden, dass es den Rechtsanspruch in der Tat für alle Kinder seit Sommer 2013 gibt. Und, dass es sogar die Möglichkeit gibt, zusätzliche Personalstunden beantragen. Wie das genau abläuft, war bis dahin nirgendwo zu finden. Es machte mich traurig und es ärgerte mich, dass ich wie eine Detektivin eine Spur für jede kleinste Information verfolgen musste.
Tschüß - ich ziehe jetzt nach Inklusionien
In Gedanken sah ich uns schon umziehen. Nach Inklusionien. Ich hatte irgendwo beiläufig aufgeschnappt, dass es in der Schweiz eine ganz tolle Schule geben soll, die für ihr fortschrittliches, inklusives Konzept bekannt ist. Liegt dort vielleicht Inklusionien? Oder war das Italien, ich weiß das gar nicht mehr so genau. Und in Skandinavien oder in Kanada habe ich gehört, da wird sogar schon lange gemeinsam unterrichtet. Gut, dann eben dahin. Wenn ich da angenommen werde mit der Kleinen, so wie alle anderen Kinder auch, dann lern’ ich eben Schwedisch, Italienisch oder Suomi … Hauptsache, die sprechen auch Inklusivisch, denn das ist die Sprache, in der ich mich verständigen möchte. Also kündigte ich in Gedanken - ohne Ziel - die Wohnung, stellte mir vor, wie ich eine tolle Schule für die Große finden würde. Will ich mir das wirklich antun? Will ich hier bleiben, wo so viele noch überlegen, OB Inklusion richtig ist und nicht WIE sie funktionieren kann? In einer Welt, in der es noch nicht mal selbstverständlich ist, ein Kind mit Down-Syndrom in einer Krippe anzumelden?
Ich bin erst mal geblieben. Nicht, weil hier alle fließend Inklusivisch reden, aber weil ich in meiner Krippensuch-Geschichte auch viele schöne Erfahrungen gemacht habe. Eine ganz kleine Krippe zum Beispiel, die noch niemals ein Kind mit einer Behinderung bei sich aufgenommen hatte, sagte ohne mit der Wimper zu zucken „Ja“ zu der Kleinen. Eine weitere Krippe reagierte ebenso. In meinen Gesprächen spürte ich auch Offenheit, Interesse, Wärme und Menschlichkeit. Und wir haben eine tolle Kita mit Krippenbereich gefunden. Wir haben nun noch ein paar Monate Zeit, bis sie dort hingehen wird, noch bin ich in Elternzeit.
Die lernende Gesellschaft - ein optimistischer Ausblick
Wenn ich nun einmal von mir als Mama ausgehe … ich habe mir nicht ausgesucht, dass die Kleine das Down-Syndrom hat. Und dennoch ist unser Leben mit ihr sehr viel reicher geworden. Die Große, der Papa und ich sind ein Stück über uns hinausgewachsen. Weil wir es mussten, weil wir keine andere Wahl hatten. Das hätte ich vielleicht vorher so nicht erwartet, mir nicht vorstellen können. Ich kann und möchte nicht sagen, dass ich es nicht schaffe, ein Kind mit einer Behinderung zu erziehen. Ich bin auch noch nie auf den Gedanken gekommen, zu beklagen, dass ich doch gar keine Erfahrungen habe mit dem Down-Syndrom, dass ich nicht darauf vorbereitet war. Ich weiß, wie wichtig es ist, ein Kind in Liebe anzunehmen. Aber gilt das nur für die Familie? Ist es für die Kleine nicht genauso wichtig, von der Gesellschaft angenommen zu werden? Sie fühlt auch, wenn sie (wegen ihrer Behinderung) nicht gewollt ist, und das soll dann ohne seelischen Schaden vonstatten gehen …
Warum sollte es denn nicht möglich sein, die Erfahrungen, die Eltern machen, auf andere Menschen zu übertragen, auf Organisationen, auf Teams, auf Erzieher und Lehrerkollegien, auf die Gesellschaft?! Auf den Mitarbeiter in der Abteilung für Kindertagespflege, die Menschen in den Krippen, die sagten „Nein, wir haben dafür keine Betriebserlaubnis“ oder „wir sind keine Integrations-Kita“. Jeder könnte jeden Moment eine Behinderung bekommen. Oder ein Kind, ein Enkelkind oder eine Nichte, die eine Behinderung hat. Sollen all diese Menschen denn nicht auch lernen und über sich hinauswachsen können? So wie ich es als Mama getan habe und viele Mütter, Väter und Geschwister vor uns.
Lasst uns alle Inklusivisch lernen!
Die Regenschirm-Frau hatte erzählt, wie sie auf ihre Art versucht hat, die Würde ihrer Tochter und Enkelkinder zu verteidigen. Niemand möchte in so eine Situation geraten und niemand möchte gerne einen Regenschirm abbekommen. Mein Vorschlag lautet daher: Lasst uns alle Inklusivisch lernen!